Beitrag zur Systematik der mitteleuropäischen Quartärfauna

von Barbara Stopp und Renate Ebersbach
(Dieser Beitrag entstand aus einem Vortrag, der zu Ehren des 80. Geburtstages von Frau Prof. em. E. Schmid 1992 gehalten wurde)

Der Inhalt der vorliegenden Publikation - Beitrag zur Systematik der mitteleuropäischen Quartärfauna - ist ein Resultat langjähriger und intensivster Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Archäozoologie, ein Fachbereich, der hauptsächlich innerhalb der Archäologie anzusiedeln ist. Er kann jedoch, wie im folgenden zu beweisen sein wird, auch der Zoologie neue Impulse geben.

Es ist allgemein bekannt, dass sich die Archäozoologie unter anderem mit der Bestimmung von Tierknochen beschäftigt, die während archäologischer Ausgrabungen zu Tage gefördert werden. Neben den archäologischen Aussagen der Tierknochen sind auch zoologische Daten, die mithilfe der Knochenanalysen erhalten werden, von wissenschaftlichem Interesse. Gerade bei der Bestimmung der Tierart stossen wir jedoch zunehmend auf zoologische Lücken. Während der Erstellung der zur Zeit gültigen zoologischen Systematik konnte wegen fehlender Untersuchungen noch nicht auf Resultate der Archäozoologie zurückgegriffen werden, weshalb aus heutiger Sicht bedauerliche wenn auch verständliche Ungenauigkeiten in der Systematik auftauchen. Vor allem die Epoche der sogenannten "neolithischen Revolution" scheint nicht nur in Bezug auf archäologische und botanische Hinterlassenschaften im wahrsten Sinne des Wortes revolutionär gewesen zu sein. Wie neueste archäozoologische Resultate belegen, wurden während des Neolithikums auch spezielle Anstrengungen in Richtung einer Verbesserung der Haustierzucht unternommen. Dabei scheuten die Neolithiker offensichtlich nicht vor uns heute seltsam anmutenden Züchtungsversuchen zurück. Die Ergebnisse der damaligen Anstrengungen sind heutigentags fast völlig in Vergessenheit geraten. Deshalb blieben uns anfänglich das Vorhandensein von Knochen mit zoologisch nicht weiter zuweisbaren morphologischen Merkmalen unerklärlich. Genaueste vergleichende Untersuchungen führten dann jedoch zu der verblüffenden Erkenntnis, dass mit diesen Knochenfragmenten eindeutige Belege für Kreuzungsversuche verschiedenster Tierarten untereinander vorliegen. Wir möchten Ihnen im folgenden erste Resultate und Erkenntnisse unserer Arbeit anhand einiger nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführter Rekonstruktionszeichnungen vorstellen. Die genaue zoologische Stellung einiger der nachgewiesenen Kreuzungen ist allerdings noch ungeklärt.







Beginnen möchten wir mit dem Hunfu (Vulca vullu S./E.). Wie unschwer zu erkennen, handelt es sich dabei um eine Kreuzung zwischen Fuchs und Hund. Der Vorteil einer solchen Kreuzung liegt auf der Hand. Neben einer aparten Fellmusterung und dem begehrten Fuchsschwanz dürfte auch die Verwendung des Hunfus bei der Fuchs- und eventuell der Dachsjagd ausschlaggebend für die Züchtung gewesen sein.







Das Schwun (Suca scrophamS./E.) ist eine Kreuzung zwischen Haus- oder Wildschwein und dem Haushund. Da nur wenige Knochen dieser Kreuzungsform gefunden wurden, lässt sich vermuten, dass das Resultat nicht ganz den Wünschen der Neolithiker entsprochen hat.

Wesentlich befriedigender dürfte das Resultat des folgenden Kreuzungsversuches ausgefallen sein: das Schweschazi (Suoca scrofarius S./E.), eine Verbindung von Schwein, Schaf und Ziege, wobei offensichtlich die vorteilhafteren Schweinemerkmale dominant sind. Neben dem Fleischgewinn durch den massigen Körper des Tieres ist ein zusätzlicher günstiger Faktor im Vorhandensein der Ziegenbeine zu sehen. Diese erlauben das Aufsuchen schwierig zu erreichender Futterplätze im steilen Gelände, wodurch das Schweschazi besonders für ökologisch weniger begünstigte Siedlungsplätze von grosser Bedeutung gewesen sein dürfte. Leider kann gerade dies durch die schlechten Erhaltungsbedingungen von (neolithischen) Fundstellen ausserhalb der Seeuferzonen nicht durch Zahlen belegt werden.

Während die bisher vorgestellten Kreuzungen im archäologischen Fundgut eher selten anzutreffen sind, treten die folgenden Kreuzungsarten relativ häufig auf. Umso verwunderlicher ist es deshalb, dass bisher noch niemand die Möglichkeit einer mangelhaften zoologischen Systematik in Betracht gezogen hat.






Als erste und häufigste Form ist die Schiege (Oca aricus S./E.) zu nennen. Neben der Genügsamkeit und Gewandheit der Ziege ist die wollbringende Eigenschaft des Schafkörpers wohl das hervorragendste Merkmal der Schiege. Die günstigen Möglichkeiten dieser Kreuzung sind in jüngerer Zeit wiedererkannt worden und erste Rückzüchtungsversuche wurden bereits in die Wege geleitet. Wir möchten dabei auf einen Artikel in der Zeitschrift Nature 304, 1984, 634 ff. verweisen.





Eine weitere sehr bekannte Form ist die Geschaziere (Ruocaca rupariclus S./E.). Geläufiger ist sie allerdings unter der Kurzform "KWK" (kleiner Wiederkäuer), die allerdings lediglich die Hilflosigkeit der Archäozoologie gegenüber der bislang unerkannten Kreuzungsform dokumentiert. Eine Beschreibung der vorteilhaften Eigenschaften dieser Kreuzung zwischen Gemse, Schaf, Ziege und Reh dürfte sich bei Betrachtung der Abbildung erübrigen.

Von den kleineren Formen gehen wir nun auf die ökonomisch interessanteren Kreuzungen zwischen den grösseren Tierarten ein.






Als erstes wäre hier der Rirsch (Boce tauphus S./E.) zu erwähnen. Auch bei dieser Kreuzungsform sind mit der Möglichkeit zur Milchwirtschaft und dem als Rohmaterial begehrten Geweih jeweils günstige Merkmale der miteinander gekreuzten Tierarten Rind und Hirsch zur Selektion gelangt. Wie es allerdings um die Arbeitsleistung der Rirsche bestellt war, lässt sich anhand des Knochenmaterials nicht mehr genau eruieren. Auch diese Kreuzungsform fand bisher unter der Bezeichnung "GWK" (grosser Wiederkäuer) eine unverdientermassen untergeordnete Stellung in den Tierartenlisten archäozoologischer Publikationen.




Eine seltenere Form, der Riwiroel (Bobiceal taubonelal S./E.), wurde bisher ebenfalls in der Gruppe der grossen Wiederkäuer eingereiht. Seine Haltung dürfte sich wahrscheinlich etwas schwieriger gestaltet haben als diejenige des Rirsches, da hauptsächlich Merkmale der in der Kreuzung verwendeten Wildtiere Wisent, Hirsch und Elch zur Ausprägung gelangten.






Eine Kreuzung, die sicherlich erst im späten Neolithikum auftauchte, ist die Ripfe (Boquus tallus S./E.), eine Kreuzung zwischen Pferd und Rind. Wegen seiner guten Arbeitsleistungen als Zugtier dürfte die Ripfe hauptsächlich in der Landwirtschaft Verwendung gefunden haben.

Die letzte sicher bestimmbare Kreuzungsform, die wir ihnen vorstellen wollen, schlägt mehr in den Bereich der Anthropologie oder in die Ethnoarchäologie und ermöglicht uns Einblicke in die mystische Gedankenwelt des vorgeschichtlichen Menschen, die bis heute unverständlich geblieben ist.



Es handelt sich um den Bämen (Hours sapos S./E.). Das Zustandekommen einer solchen Kreuzung bleibt am besten im Dunkel vergangener Zeiten verborgen. Dass aber ein geheimes und uns unbewusstes Wissen über diese halb Bär - halb Mensch darstellende Verbindung vorhanden ist, lässt sich auch heute noch relativ gut an dem französischen Wort "l'ours" (Bär) erkennen, das auf verblüffende Weise Ähnlichkeit mit der lateinischen Artbezeichnung des Bämens aufweist. Auch volkskundlich gesehen ist das Vorhandensein einer halbmenschlichen Form im europäischen Raum durchaus vorstellbar. Dies würde eine bisher unerklärliche geografische Lücke schliessen, die zwischen dem Auftreten des asiatischen Yeti und dem nordamerikanischen Sasquatch besteht. Während in den letztgenannten Regionen das Vorhandensein solcher Tiermenschen nie angezweifelt wurde, ist im "aufgeklärten" Europa das Wissen um derartige Wesen untergegangen.

Dass dem nicht immer so war, zeigen die europäischen jungpaläolithischen Höhlenmalereien der sogenannten "sorciers", die ebenfalls als Tier-Menschen abgebildet wurden und so wohl an die Bämen erinnern sollten.

Zwei "Sorciers" aus der Höhle les Trois-Frères (Ariège, F), Magdalénien

Als letztes seien zwei Tierformen vorgestellt, über deren Äusseres derzeit nur Spekulationen möglich sind. Vom Aves monstros lässt sich lediglich sagen, dass er zur Avifauna gehörte (Abb. 1). Zu erwähnen ist allerdings, dass die Form des Aves monstros nicht nur Vermutungen entsprungen ist, sondern sich in etwas veränderter Form im Bildvorlagenatlas des Matthäus Merian, Tab. XXI wiederfindet. Der Bildatlas enstand in der Mitte des 17. Jahrhunderts, eine schmerzliche Erinnerung daran, was erst in den allerletzten Jahrhunderten an Wissen verloren gegangen ist! Die bis dato auf den Namen Species halluzinogena, oder in Anlehnung an Morgensterns "Nasobem" auch "Halluzinobem", getaufte Form lässt nicht einmal eine grobe Einbindung in die zoologische Systematik zu (Abb. 2). Am wahrscheinlichsten handelt es sich bei den hierzu eingeordneten Knochenfragmenten um Kreuzungen, die wir bisher noch nicht genauer identifizieren konnten.

Abb. 1

Abb. 2

Mit diesen Abbildungen möchten wir den Beitrag schliessen und hoffen, dass damit einer bis anhin wenig beachteten Forschungsrichtung innerhalb der Archäozoologie neue, kreative Impulse gegeben werden konnte.



Text und Gestaltung: B. Stopp / R. Ebersbach
Zeichnungen: B. Stopp / R. Ebersbach / M. Stopp
© B. Stopp / R. Ebersbach, Basel 1992

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